Gesundheitswesen: Flucht wählen oder neue Perspektiven entdecken?

«Wie geht es Ihnen?» ist wohl eine der meistgestellten Fragen, ohne genau wissen zu wollen, wie es dem anderen wirklich geht. Doch manchmal ist ein genaueres Nachfragen und Hinsehen einfach richtig. Zum Beispiel im Gesundheitswesen.

Eine Studie zeigt auf, dass 13 Prozent der Pflegenden aus ihrem Job aussteigen möchten, wenn sich die Arbeitsbedingungen nicht ändern. 13 Prozent. Wieviel das wohl in Betten umgemünzt ausmacht? Vielleicht meines oder Ihres mit dabei. Ein mulmiges Gefühl ...

Das ist ungefähr so, wie wenn wir - körperlich völlig k. o. und mit den Nerven am Ende - im überfüllten Zug von Zürich nach Bern fahren Bei der Suche nach vielleicht doch einem Sitzplatz stehen wir dauernd jemandem auf die Füsse, müssen uns entschuldigen und wo ein Platz frei wäre, ist er mit Gepäck besetzt. Auf unsere Frage, ob noch frei ist, erhalten wir einen genervten Blick oder einen tiefen Seufzer. Willkommen sein fühlt sich anders an. Und so haben wir, wie das Gesundheitspersonal, nur noch Lust, schnellstmöglich auszusteigen.


Was bei medizinischen Fachkräften gut ankommt

Die gute Nachricht: 80 Prozent der Fachkräfte sind zufrieden bis sehr zufrieden - zumindest, was ihr Wohlbefinden angeht. Ein Viertel der Befragten können nicht ihr komplettes Wissen einsetzen. 16,5 Prozent wären gerne besser auf das Berufsleben vorbereitet worden.

Die Hauptbeschwerde liegt bei der hohen Arbeitsbelastung. Auf kurze Dauer mag das gehen. Doch ab 5 bis 10 Berufsjahren nehmen Erschöpfungssymptome zu. Und in diesen Jobs geht es um Menschenleben ... Das ist nicht gerade vertrauenserweckend.

Gehen wir zu den 80 Prozent zufriedene Mitarbeitende im Gesundheitswesen. Eine erfreuliche Anzahl! Wir dürfen uns jedoch nichts vormachen. Die aktuellen Zahlen der Kündigungen im Pflegebereich liegen bei zirka 300 pro Monat. Und wer würde in einer solchen Situation nicht ähnlich handeln ...

Kündigen bei anhaltend belastenden Arbeitsbedingungen ist keine Flucht. Es ist reiner Selbstschutz.

Was tun? Wo ansetzen? Laut der Studie werden Entwicklungsmöglichkeiten, Teamgeist und der Sinn der Arbeit als positive Punkte genannt. (Quelle: «So geht es den Schweizer Gesundheitsfachkräften» medinside.ch, 9.10.2023)

Es gibt also durchaus Ansätze, um Menschen - und das sind medizinische Fachkräfte - motivieren zu können.


Entwicklung, Team und Sinn

Wir Menschen können Erstaunliches leisten, wenn uns wichtige Werte leiten. Erfüllte Werte haben grossen Einfluss auf unsere innere Zufriedenheit. Das gilt ganz besonders für Berufe im Gesundheitswesen.


Entwicklungsmöglichkeiten

«It's not a dream, it's a plan.» Es ist kein Traum, es ist ein Plan. Wir träumen gerne von der Zukunft. Besonders von einer gestaltbaren Zukunft. Entwicklungsmöglichkeiten sind darum sehr wichtig, wenn Stellenangebote ausgeschrieben werden. Wir brauchen Perspektiven und das Wissen, dass der Weg schon geebnet bzw. angedacht ist. Arbeitsstellen ohne Entwicklungsmöglichkeiten und Perspektiven sind schwerer zu besetzen.

Einbahnstrassen haben etwas Perspektivloses und Einengendes an sich. Neue Möglichkeiten hingegen setzen ungeahnte Energien frei.


Teamgeist

«Wenn du schnell gehen willst, dann gehe allein. Wenn du weit gehen willst, gehe mit anderen.» lautet ein afrikanisches Sprichwort. Afrika, das ist der Kontinent, wo man in Familienwerten denkt. Ein Kind wird von einem ganzen Dorf erzogen und Geschenke werden auf alle verteilt.

Afrika, der Kontinent, dem wir den Status «Dritte Welt» aufgebrummt haben. Von ihm können wir die Basics wieder neu lernen. Miteinander. Geben und nehmen.

Etwas gemeinsam erreichen, auch wenn der Weg steinig ist. Auf diese Weise wurden die höchsten Berge bestiegen, Forschung betrieben, neue Medikamente entwickelt und Menschenleben verändert.

Ein positiver Teamgeist hat einen grossen Einfluss auf die Teamentwicklung. Muss sein!


Sinnstiftende Arbeit

«Meaning of Life» lautet die englische Übersetzung von Lebenssinn. Wie Leben gemeint ist. Hier zählen Werte wie Helfen, sozial und medizinisch tätig sein, Menschenleben retten, Leben wieder lebenswert machen. Das alles macht Sinn.

Geteilter Sinn vermehrt sich. Sich aus Überzeugung für kranke Menschen einsetzen: was für eine Motivation!


Statt Widerspruch sinnvoll und glaubwürdig

Wenn Menschen oder eben das Gesundheitssystem kränkeln, gibt es dafür Gründe. Oft tragen wir uns zu wenig Sorge, sind im Stress und vernachlässigen die Grundversorgung an Körper und Psyche. Ähnlich läuft es beim Gesundheitssystem.

Das Ziel, möglichst gewinnbringend zu arbeiten, widerspricht zum Teil dem Ziel der Mitarbeitenden, in ihren Interessen wahrgenommen und respektiert zu werden. Bessere Entlöhnung ist bei unveränderter Ausgangslage kein genügend grosser Anreiz, weiterhin im Gesundheitswesen zu arbeiten.

Bei Menschen, die sich dauernd am Limit bewegen, verändert sich der «Berater». Es sind nicht mehr die meist hoch gesteckten Ziele, die vorantreiben und zu Höchstleistungen motivieren. Es sind die Signale des Körpers und der Psyche. Und die sind ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr verhandelbar!

Also tun Verantwortliche gut daran, die Dinge zu bewegen, die realistisch sind. Mit einer menschenorientierten und glaubwürdigen Haltung.

Fachkräfte wissen, wo ansetzen. Sie müssen einfach gehört werden!

14.12.2023, Andreas Räber, Enneagramm Trainer Cp, Wetzikon