Herausforderungen in der psychiatrischen Versorgung in der Schweiz

Wir sind schneller und vernetzter unterwegs als noch vor 30 Jahren. Die Wirtschaft und das Internet sind an diesem Trend nicht ganz unschuldig. Produktivität steigern, sprich viel mehr Leistung in der gleichen Zeit. Selbst Maschinen würden dadurch früher abgenutzt und bräuchten mehr Unterhaltsservice. Umso weniger darf es uns verwundern, wenn unsere psychische Gesundheit immer mehr leidet. Zeit, genauer hinzusehen!

Epidemiologische Studien zeigen, dass die Prävalenz psychischer Erkrankungen gar nicht steige, hingegen die Inanspruchnahme von psychiatrischen Dienstleistungen deutlich zunimmt, schreibt die Berner Fachhochschule auf ihrer Webseite bfh.ch im Artikel "Wie steht es um die psychische Gesundheit in der Schweiz?"

Die Gründe sind nicht klar. Man kann es nur vermuten. Gesellschaftlicher Wandel, unerwartete Ereignisse, unsichere Zukunftsperspektiven. Klar ist, dass die Nachfrage nach psychiatrischen Leistungen steigt. Ein Drittel der Schweizer Bevölkerung leidet gemäss dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium OBSAN an psychischen Problemen. Zum Beispiel:

  • 36 % Depressionssymptome
  • 32 % Angststörungen
  • 13 % Essstörungen
  • 12 % Substanzbezogene Abhängigkeit
  • 10 % Soziale Phobie
  • 10 % Problematischer Alkoholkonsum

Nur ein Drittel der Personen mit Behandlungsbedarf haben bisher professionelle Hilfe erhalten. Damit besteht auch hierzulande ein hoher ungedeckter Bedarf.

Das ist zu wenig und die genannten Themen brauchen unsere Aufmerksamkeit!.

Was läuft schief im "modernen" Helvetien?

Vertieft hinsehen

Auffallend hoch ist die Problematik bei jungen Menschen. Zirka zwei Drittel der jungen Frauen zwischen 15 und 24 Jahren zeigen leichte bis schwere depressive Symptome, gefolgt von Essstörungen oder Selbstverletzungen. Bei den jungen Männern liegen die Probleme bei einem problematischen Alkohol- oder Cannabiskonsum.

Ein vertiefter Blick zeigt: Zum Beispiel Kriege, Terror, Corona und die Auswirkungen des Klimawandels haben es auf unsere Jungen abgesehen. Wir sind ständiger Bedrohung ausgesetzt. Solastalgie (= emotionaler Schmerz beim Bewusstsein der Mitleidenschaft der Heimat durch Umweltzerstörung, vergleichbar mit dem Gefühl von Heimweh), Öko-Angst und Öko-Paralyse sind die Folgen davon. Kein Wunder, sind sie doch in einer Zeit aufgewachsen, wo sie vieles schon vorgefunden und als selbstverständlich eingestuft hatten.

Nach dem zweiten Weltkrieg war man froh, wieder einigermassen in Frieden und mit mehr Luxus zu leben. Und unsere Kinder wussten nicht, dass diese Selbstverständlichkeit eine lange Geschichte hat bzw. erst entstehen musste.

Ernüchterung erfordert einen Gesundungsprozess, der nicht nach dem Tempo und Leistungsvermögen von Einzelnen fragt. Tatsachen haben keine lange Vorlauf- und Angewöhnungszeit.

Doch da sollten wir als Gesellschaft weder wegsehen noch stehen bleiben!

Fachkräftemangel und Veränderungen

Wer in psychischer Not ist, müsste unbedingt gehört werden. Professionelle psychologische Ansprechpersonen haben.

Verständnis, Kompetenz und Perspektiven wären so wichtig in diesen Zeiten.

Die Schweiz hat eine der höchsten Dichten an PsychiaterInnen in Europa. Und sie sind alle voll beschäftigt. An Betten in den psychiatrischen Kliniken soll es nicht mangeln. Lediglich an Fachkräften. Nur ... Fachkräfte sind das Wichtigste in Fragen rund um die psychische Gesundheit. Die Nachfrage ist grösser als das Angebot.

Das bedeutet lange Wartezeiten. Viel Geduld in einer Zeit, wo die innere Leere noch mehr in die Tiefe zieht.

Manche psychiatrische Anlaufstellen verhängen sogar Aufnahmestopps. "Mehr geht nicht" muss deutlich gelebt werden, damit die Öffentlichkeit und Verantwortlichen verstehen und handeln.

Respekt vor der eigenen Leistungsfähigkeit ist ein wichtiges Signal, um sich selbst zu schützen. Psychopharmaka und andere Medikamente sind eine schlechte Alternative.

Primärversorgung: Ein Feld zurück

Wir müssen etwas ändern. Zwingend! Wir müssen vor allem früher etwas ändern! Obwohl die Krankenversicherungen die psychiatrische Versorgung abdecken, bieten nur wenige Hausärzte entsprechende Leistungen an. Die Psyche findet vielerorts zu wenig Gehör.

Dank dem neu eingeführten Anordnungsmodell für PsychotherapheutInnen reicht eine Überweisung vom Grundversorger für eine Psychotherapie. Ambulante Therapien sind weniger personalintensiv und ersparen auch etliche Klinikaufenthalte. Die Nachfrage ist bereits heute sehr hoch. Doch die ambulante Versorgung hat noch einige Hürden - politische, administrative und finanzielle - zu meistern.

Je früher, desto leichter zu behandeln, bewahrheitet sich auch hier. Doch wo fängt "früher" an?

Emotionale Nähe und Freundschaften stärken

Studien berichten, dass wir Menschen viel Stress ertragen können, wenn wir uns sozial getragen wissen. Ein paar wenige, aber gute Freundschaften pflegen können - auch bei Kindern! Wichtig ist, dass wir uns von anderen respektiert und gehört fühlen.

In Freundschaften und Beziehungen geht es nicht immer darum, über das vorhandene Leid oder Herausforderungen zu klagen, sondern auch darum, was uns alles gelungen ist und was wir am Leben schätzen - und es geht um Vertrauen.

Freundschaften und Beziehungen nehmen eine wichtige präventive Rolle ein, ob und wie wir im Laufe unseres Lebens psychische Probleme entwickeln.

Bereit sein, wenn es nicht mehr anders geht

Unser Gesundheitswesen ist am Ende eines Rattenschwanzes, der mit Fahrlässigkeit, Wagnissen, Versäumnissen in zwischenmenschlichen Beziehungen sowie zu hohen eigenen und fremden Erwartungen beginnt.

Und das in einer Welt, in der immer mehr Informationen auf uns einprasseln und unendlich viele Möglichkeiten bestehen, uns für oder gegen etwas zu entscheiden.

Vieles davon hat gute Ansätze. Es braucht aber immer auch den bewussten Mut auf Verzicht und den Fokus auf gesunde und nährende zwischenmenschliche Beziehungen - in jedem Alter. Damit das Gesundheitssystem bereit sein kann, wenn es gar nicht mehr anders geht ...

26.3.2024, Andreas Räber, GPI®-Coach, Wetzikon